Sibel betrachtete die durchtrennten Wurzeln und spürte eine dicke Träne ihre Wange hinablaufen.
„Mama, weinst du, weil der Baum jetzt tot ist?“
Probier’s mal mit Gemütlichkeit!, hatte Balus Stimme in ihrem Kopf gesungen, als ihre Tochter zum gefühlt hundertsten Mal die falsche Zahlenkombination am Fahrradschloss eingegeben und Netti dennoch jegliche Hilfe vehement abgelehnt hatte, bis sich das Schloss irgendwann endlich mit einem leisen „Klick“ geöffnet hatte.
Der Anblick der abgerissenen Wurzeln erinnerte Sibel an ihren Geduldsfaden in jenem Moment, als sich Netti aufs Rad geschwungen und das Reifengummi dabei mit dem Asphalt eine glatte, ebene Fläche gebildet hatte. Wie sie die Pumpe aus der Tasche gezogen und das Plastikgehäuse auf den winzigen Verschluss gesteckt hatte. Doch so schnell, wie die Luft eingeströmt war, war sie wenig später auch schon wieder hinausgeströmt.
Wie oft schon hatte sie gelesen, dass es so wichtig sei, das Beste aus jeder Situation zu machen. Und wie oft schon hatten ihr Freundinnen gesagt, das Universum habe seinen ganz eigenen Plan, sie solle doch einfach mal versuchen, geduldiger zu sein.
Resigniert hatte Sibel die Luftpumpe in den Fahrradkorb gelegt und das Rad zurück in den Ständer geschoben.
„Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang? Um das Fahrrad kümmern wir uns später.“
Freudig hatte Netti ihre Hand ergriffen und war mit ihr in Richtung Kreuzung gehopst.
Aus der Ferne sahen sie bereits das hektische Zucken des Blaulichts. Je näher sie kamen, desto mehr gefror ihr das Blut in den Adern. Schweiß tropfte von Sibels Stirn, als sie auf den riesigen Baum starrte, der den Fahrradweg und sämtliche Autos in dessen Nähe unter sich begraben hatte.
„Mama, weinst du, weil der Baum jetzt tot ist?“
Das Mitgefühl, das aus Nettis Augen sprach, durchfuhr Sibel und hätte auf der Stelle einen ganzen Sturzbach auslösen können, doch sie riss sich zusammen – wie schon so oft in ihrem Leben. Stattdessen schlang sie die Arme um ihre Tochter, küsste sie auf die Stirn und flüsterte: „Ich glaube, mein Schatz, das ist der perfekte Moment, ein Eis essen zu gehen.“
Als die Feuerwehrmänner begannen, den Baum zu zerlegen, löste sich Sibel aus der Umarmung und wischte die Träne fort. Lächelnd ergriff Netti die noch immer zitternde Hand ihrer Mutter und hüpfte los in Richtung Eiswagen.
***
Am nächsten Tag erwachte Sibel früh. Ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus, als sie das zarte Wesen neben sich erblickte. Ihnen beiden wurde ein weiterer Tag geschenkt, und sie wusste noch gar nicht, wie sie ihn am besten nutzen sollten. Doch wenn sie das gestrige Geschehnis eines gelehrt hatte, war es, dass sie sich ohnehin nicht auf irgendwelche Pläne versteifen sollte. Am Ende kam sowieso alles anders als geplant. Keine Erwartungen – keine Ent-Täuschungen.
Auf der anderen Seite wusste sie, dass sie keinen Tag ihres Lebens noch länger verplempern wollte. Ab sofort galt es, jeden Moment zu genießen, komplett im Hier und Jetzt zu leben, keine weiteren Gedanken an ihre Vergangenheit zu verschwenden oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Ganz so wie ihre Tochter es ihr jeden Tag vorlebte. Nun wollte auch sie das Leben feiern, jeden einzelnen Tag genießen, der ihr geschenkt wurde. Sie wollte ihr Herz öffnen, lachen, tanzen, knutschen, reisen. Und sie freute sich über jeden Menschen, der sie auf diesem Weg begleiten würde.
Alles, was für sie vorgesehen war, würde ohne jede Anstrengung zu ihr finden, sodass es sich gar nicht lohnte, irgendetwas oder -jemandem hinterherzujagen. Sie musste einfach nur vertrauen. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde breiter.
„Guten Morgen, Mama. Hast du auch so viel geträumt?“