In der engen Zwei-Zimmer-Wohnung stand die Luft. Es roch nach Schlaf und Fonduefett. Konnte sie es wagen, ein Fenster zu öffnen? Noch immer war die Angst groß, dass die Wohnung in Brand gesetzt oder gar sie selbst von einem Geschoss getroffen wurde. Vorerst öffnete Irina nur die Kühlschranktür und wurde von gähnender Leere begrüßt. Es führte kein Weg daran vorbei. Sie musste die Wohnung verlassen.

Nach den kriegsähnlichen Zuständen, die in den vergangenen zwei Tagen auf der Straße vor ihrem Haus geherrscht hatten, wagte sie sich erstmals wieder hinaus. Dicht neben ihr, die Hand fest in ihre gepresst, stolperte ihre Tochter Eve. Der Regen prasselte in dicken Tropfen auf den Asphalt und Eves Kopf. Ihre blonde Locken klebten wie Wachs an Stirn und Wangen. Irina kramte in ihrer Tasche nach dem Schirm, während sie mit den Fingern der anderen Hand versuchte Eves Haare zurückzukämmen. Slalomähnlich, vorbei an ausgebrannten Raketen und unzähligen Schusspatronen, bahnte sie sich zusammen mit Eve den Weg in Richtung ihres silbernen Golfs aus den Neunzigern. 

Das aufspritzende Wasser des vorbeifahrenden Busses ergoss sich über Irinas Rücken, während sie mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss steckte. Leise fluchend ließ sie sich hinters Lenkrad fallen und kontrollierte abermals Eves Gurt auf dem Rücksitz, bevor sie sich in den Verkehr einreihte und sich heimlich schwor, nicht bis zum nächsten Neumond zu warten. Es war wortwörtlich ein brandneues Jahr, und es galt, Pläne zu schmieden. Kein weiteres Mal wollte sie das neue Jahr so beginnen. Noch immer hallten die unzähligen Schüsse durch ihren Kopf. Das Geräusch von zersplittertem Glas und heulenden Sirenen. Als hinter ihr das Blaulicht eines Rettungswagen aufblitzte, zuckte sie ein weiteres Mal zusammen. Abermals fuhr sie auf den Bordstein, ließ den Notarzt passieren und schaltete das Radio ein. Die Nachrichten ertönten. Erneut reihte sie sich in den Verkehr ein und kroch gemeinsam mit gefühlt hundert weiteren Autos die Straße entlang.

Die Ampel sprang auf grün. Irina steuerte den soeben frei gewordenen Parkplatz an. Noch bevor das Auto komplett zum Stehen kam, hatte Eve die Beifahrertür aufgerissen. Irina beugte sich über den Beifahrersitz und zog die Tür zu sich heran. Als sie ihre eigene Tür schloss, hatte Eve das Auto bereits umrundet und streckte ihr soeben freudestrahlend den Fund des Tages entgegen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Irina auf die silberne Nadel, umgeben von einem runden länglichen Plastikgehäuse. Wortlos nahm sie das Fundstück an sich und ließ es in den nächstgelegenen Mülleimer gleiten. Zum ersten Mal war sie dankbar für die Desinfektionsspender am Eingang des Einkaufszentrums. 

Eves kleine Hände formten ein „V“, während Irina den Metallhebel mehrfach betätigte und ihrer Tochter zu verstehen gab, die Hände aneinander zu reiben. So langsam bereute sie ihr Bitten um ein Zeichen des Universums, ob sie diese Stadt verlassen und ihren Träumen besser woanders folgen sollte. Wie vielen Zeichen bedurfte es nun noch, bis sie ihre Wohnung endlich kündigen und die Kartons packen würde? 

„Guten Morgen. Na, gut ins neue Jahr gerutscht?“ Irina sah auf und in die strahlenden Augen der Verkäuferin. Millionen von Einwohnern, und dennoch kannte man sie, schätzte sie und ihre kleine Tochter, führte hier und da einen kleinen Schwatz mit ihnen beiden. Könnte sie das einfach so aufgeben? Wie wäre das in einer Kleinstadt? Mit Sicherheit würde sie dort noch schneller mit dem Bäcker ins Gespräch kommen, ihre Nachbarn innerhalb kürzester Zeit beim Namen nennen können. Andererseits aber möglicherweise schon bald zum Thema diverser Stammtisch-Abende werden. „Hast du schon gesehen, die Neue, wirkt ja erstmal ganz nett, aber wer weiß, was die geritten hat, von so einer großen Stadt hier in die Idylle zu ziehen. Hast du gesehen, was die beruflich macht? Damit kommt die doch hier auf keinen grünen Zweig.“ Die Vorstellung morgens aufs Wasser zu blicken, war, verglichen mit dem möglichen Dorftratsch, dennoch viel zu verlockend, um den Weg nicht zu gehen, oder? Aber was, wenn ihre Tochter eines Tages unter ihrem Ruf der ‚verschrobenen Alten‘ leiden musste? Ausgrenzung oder regelmäßige Spritzenfunde, was stellte das kleinere Übel dar?

Behände warf Irina die Einkäufe auf die Rückbank, schnallte Eve erneut an, klappte den Fahrersitz zurück und startete wenig später den Motor. Aus den Boxen erklungen Depeche Mode. Sie schaltete das Radio aus und setzte den Wagen zurück. Bis zum Anschlag trat Irina die Bremse, als ein schwankender Mann, die Rücklichter ignorierend, plötzlich verdächtig nah an ihrer Stoßstange vorbeitorkelte. Im Rückspiegel sah sie das Heck ihres Wagens knapp vor seiner Kniescheibe stoppen und Eves Oberkörper nach vorne schnellen. Gleich heute Abend würde sie sich auf die Immobiliensuche begeben. Vielleicht war es gar nicht so übel, zum Dorfgespräch etwas Neues beitragen zu können.

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