Hell erleuchtete Wohnungen in der Nachbarschaft. Pizza-, Burger- und Sushi-Lieferanten geben sich die Klinke in die Hand. Auf einem der Balkone singt ein Paar die Hits der 90er. Ihre Musik breitet sich leise über der Straße aus, trifft auf die gegenüberliegende Hauswand, lockt die Bewohner an die frische Luft. Einige applaudieren, andere johlen oder stimmen in den Gesang mit ein. Dennoch scheint niemand den Wonnemonat mit der gleichen Ausgelassenheit zu begrüßen wie noch im vergangenen Jahr. Die wahrscheinlich Einzigen, die heute tanzen, sind meine Finger. Discofox auf der Tastatur, kein Engtanz!

Die Natur vor meinen Fenstern lässt sich von der Gesamtsituation nicht beirren. Grün und saftig schießen die Blätter und Blüten aus den Knospen hervor, zeigen sich in ihrer ganzen Schönheit, während unsere innere Blüte zunehmend verkümmert, sind wir aufgefordert, gegen die eigene Natur zu handeln. „Wir reden stundenlang am Telefon über die Dinge, die uns im Kopf herumspuken, doch ist das Herz so voll“, sagte kürzlich eine Freundin. Will das Herz endlich Erlösung finden, müssen wir dafür tief in die Tasche greifen. Der Wunsch nach Nähe war wahrscheinlich zu keiner Zeit so massiv wie in dieser. Werden wir von einer Nachbarschaftsseite im Internet aufgefordert, näher aneinander zu rücken, zahlen wir eine beträchtliche Strafe, wollen wir dieser Aufforderung physisch nachkommen. Viele von uns fragen sich sicherlich schon, wie viel ihnen eine Umarmung mittlerweile wert ist. 150, 200 oder gar 2000 Euro? Was bedeutet das für Tinder-Dates? Bestehen jene momentan eigentlich ausschließlich aus Spaziergängen und Radtouren?

Haben wir uns gerade damit abgefunden, dass jede Form der körperlichen Nähe auf unbestimmte Zeit untersagt ist, vermissen wir seit Beginn der Woche plötzlich noch mehr: Das nette Lächeln der Frau an der Supermarktkasse, des Gassigängers aus der Nachbarschaft, der Blumenhändlerin auf dem Wochenmarkt. Hinter die Fassade blicken, die Maske fallen lassen – all dies erhält mit einem Mal eine völlig neue Bedeutung. Was macht das mit uns, können wir niemandem mehr aufmunternd zulächeln? Was macht das mit unseren Kindern, können sie Gefühle plötzlich nicht mehr von den Gesichtern ihrer Mitmenschen ablesen? Jedes Gespräch wird im Keim erstickt, die Atmung flacht ab. Wir werden müde und drömelig. Sieht so die Zukunft aus?

Was würde wohl passieren, würden eine*r von uns einfach einen Tisch auf die Straße stellen und dort zu Abend essen, fragte neulich eine Bekannte. Würden Andere – natürlich unter Einhaltung des Mindestabstands – mitziehen? Würden die Masken nach und nach fallen? Würde man sich aufrichtig erzählen, was einen zurzeit beschäftigt? Würde die Presse anrücken und darüber berichten? Würden die Bilder um die Welt gehen und Menschen in Italien, Spanien oder Finnland dazu anregen, etwas Ähnliches zu tun? Würde die Polizei kommen und den Ausdruck jenen friedlichen Widerstands auflösen? Niemand kennt die Antwort – solange es nicht in die Realität umgesetzt wird …

Please follow and like
0

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert